Am 14. Oktober strahlte das ARD-Wirtschaftsmagazin „plusminus“ einen Beitrag aus unter dem Titel „Pestizide in unseren Nahrungsmitteln“. Prof. Dr. Andreas von Tiedemann, Professor für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen, verfasste dazu einen offenen Brief:
Offener Brief an die ARD
Sendung PlusMinus „Pestizide in unseren Nahrungsmitteln“ vom 14.10.20115
Meine Hoffnung, am Bildschirm jemals eine objektive und wahrheitsgemäße Berichterstattung über das Thema Landwirtschaft oder Pflanzenschutzmittel zu erleben, habe ich schon lange aufgegeben. Dass es in dieser Hinsicht keinen Qualitätsunterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern gibt, hat das Beispiel der gestrigen PlusMinus-Sendung wieder einmal unter Beweis gestellt. Wenn Greenpeace von der Angst der Menschen vor vergiftetem Essen lebt, weil das ihre Existenz und Spendenwürdigkeit begründet, ist das nachvollziehbar, aber welches Interesse kann die ARD an einer derartigen Desinformation haben? – Fühlen Sie sich denn überhaupt nicht mehr zur verantwortungsvollen Aufklärung verpflichtet und sollten Sie sich deshalb nicht um Objektivität und wirkliches Fachwissen bemühen? – Nichts, davon enthielt Ihr Bericht, der ausschließlich aus blanken Spekulationen, wilden Assoziationen und Falschinformationen bestand. In der letzten Sequenz bezeichnet die leider über Jahre desinformierte Verbraucherin verständlicherweise und auf Zuruf die vermeintliche Lebensmittelvergiftung als „Schweinerei“. Eine Schweinerei ist aber Ihr Beitrag, der Menschen ohne Not und Anlass Angst macht, frei und beherzt zu essen. Wie viele Essstörungen gehen inzwischen auf solche in den Medien permanent verbreiteten Zerrbilder der Wirklichkeit zurück? – Das sollten Sie mal untersuchen.
Warum stellen Sie gar nicht die Frage, warum Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden und was möglicherweise ihr Benefit ist. Warum fragen Sie nur Personen, die entweder keine wirklichen Experten sind oder eindeutige Interessensvertreter? – Es gibt unabhängige Wissenschaftler an Universitäten und in Zulassungsbehörden, die dazu kompetent etwas sagen könnten. Deren Aussagen aber wären, dass es keinerlei Hinweise auf die im Film genannten Kombinationswirkungen mehrerer Wirkstoffe gibt, dass es kaum sein kann, dass Rückstände in Lebensmitteln Krebs auslösen, wenn die Reinwirkstoffe selbst in hohen Dosen im Labor keinerlei solche Wirkungen zeigen. Denn darauf werden Pflanzenschutzmittel intensiv untersucht. Ebenso wie auf neurotoxische, teratogene, mutagene, allergogene Wirkungen. Der leiseste Verdacht, dass ein Wirkstoff hier kritisch ist, führt zum sofortigen Entzug der Zulassung. So sind schon Fungizide aus Verdacht verboten worden, bei denen inzwischen klar ist, dass sie doch nicht kanzerogen sind und wieder zugelassen werden können. Es ist perfide und geschmacklos, in diesem Zusammenhang einen Alzheimerkranken vorzuführen und ihn ohne jeglichen wissenschaftlichen Beleg mit Pflanzenschutzmitteln in Verbindung zu bringen. Das ist Propaganda der billigsten Art und hat mit Aufklärung nichts zu tun. Das im Film genannte Carbolineum ist so lange aus dem Verkehr gezogen, dass Ihr Hinweis darauf nur mit der Beurteilung heutiger Autos auf der Basis des VW Käfer vergleichbar ist.
Diese unerträgliche Tendenziosität setzt sich in einigen blanken Falschaussagen fort. Es trifft nicht zu dass es keine Grenzen für die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln gibt. Diese Menge ist genau in der Zulassung für jedes Mittel und jede Anwendungskultur festgelegt. Es trifft auch nicht zu, dass die EFSA für die Zulassung von „Pestiziden“ zuständig ist, das sind nationale Zulassungsbehörden, die EFSA lässt nur die Wirkstoffe zu. Das mag für den Verbraucher nicht sehr relevant sein, zeigt aber die nachlässige Qualität Ihrer Recherchen. Es trifft nicht zu, dass „immer mehr gespritzt“ wird. Wahr ist, dass die pro Hektar ausgebrachte Wirkstoffmenge seit 1990 erst stark zurückgegangen ist und seit 1995 weitgehend konstant bei 1,8 kg/ha liegt. In der gleichen Zeit ist die Zahl der zugelassenen Wirkstoffe von 280 auf unter 250 gesunken. Verändert hat sich in dieser Zeit aber die Toxizität der Wirkstoffe. Diese ist dramatisch zurückgegangen, was man an den sog. SYNOPS-Indikatoren sehen kann. So sind heute über 96% aller zugelassenen Wirkstoffe keiner Giftklasse mehr zugeordnet, das heißt sie liegen toxikologisch im Bereich von Kochsalz oder besser. Das ist der Grund, dass die Giftzentrale Nord in Göttingen seit über 20 Jahren keinen Vergiftungsfall mit Pflanzenschutzmitteln mehr hatte. Das sind die Fakten, die Sie ohne Probleme vom BVL oder JKI oder BfR bekommen können, von denen aber in Ihrem Beitrag nichts vorkam.
Ein Letztes noch: Pflanzenschutzmittel schützen die für unser Überleben wichtigsten Organismen nämlich Nutzpflanzen. Diese benötigen den Schutz vor Krankheiten und Schädlingen so wie wir ihn als Menschen durch Medikamente sicherstellen. Beides, Medikamente und Pflanzenschutzmittel, sind segensreiche Hilfsmittel für unser Überleben und beide können natürlich auch durch Fehlanwendung Schaden machen. Diese Schäden sind bei Medikamenten relativ groß (Medikamentenmissbrauch, Nebenwirkungen), bei Pflanzenschutzmitteln praktisch nicht nachweisbar. Es gibt in der westlichen Welt in den letzten >20 Jahren keinen einzigen klinisch belegten Fall einer Gesundheitsbeeinträchtigung durch den Verzehr fachgerecht behandelter Lebensmittel, die Sie in Ihrem Bericht als „vergiftet“ darstellen. Wo also sind die nachweisbaren Opfer dieser jahrelangen Vergiftung der Menschen? – Warum ist die Lebenserwartung gerade dort gestiegen, wo die Bevölkerung sich vornehmlich von „gespritzten“ Produkten aus der modernen Landwirtschaft ernährt. Es gibt diese Opfer nicht, weil wir die besten, gesündesten und vielfältigsten Nahrungsmittel haben, die es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat.
Ein Allerletztes: Abgesehen von der Verantwortungslosigkeit dieses Berichts gegenüber den Verbrauchern, haben Sie mal überlegt, wie infam Ihre unbelegten Behauptungen gegenüber der großen Mehrzahl der Landwirte ist? – Sie implizieren, dass sie skrupellos vergiftete Lebensmittel produzieren.
Nochmal, dies war eine ganz schwarze halbe Stunde für den guten Fachjournalismus. Ich weiß, dass Sie dies nicht korrigieren werden und ich, selbst als Rundfunkbeitragszahler, darauf keinen Einfluss habe, aber vielleicht reicht es ja wenigstens dafür, dass Sie sich meine Hinweise durch den Kopf gehen lassen.
Andreas von Tiedemann,
Professor für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen
Quelle des Bildes: geralt