Kommentar zum Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“
Das neue Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, geht in seinen Empfehlungen zum Tierschutz „von der Einschätzung aus, dass die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und neuer wissenschaftlicher Bewertungsansätze nicht zukunftsfähig sind.“
Den Titel „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ trägt das Gutachten nicht umsonst. Es beleuchtet sein Thema wirklich umfassend und verdiente eine detaillierte Würdigung aller darin angesprochenen Teilbereiche. Von der Zucht, über Nutztierhaltung, Transport, Schlachtung, Verarbeitung bis zu Antibiotikaeinsatz, Düngung und Umweltfragen.
Wir wollen uns an dieser Stelle aber – in Anlehnung an den Slogan des BMEL – auf Fragen der Haltung konzentrieren. Zu Zielkonflikten in der Nutztierzucht ist hier bereits ein Beitrag zu finden und auch Probleme bei Schlachtung und Betäubung wurden (und werden in nächster Zukunft wieder) eingehend behandelt.
Allein die im Gutachten skizzierten „drei möglichen Szenarien für die Weiterentwicklung der Initiative Tierwohl“ und der Vergleich des niederländischen mit dem deutschen Tierschutz-Label wären einer detaillierten Würdigung wert. Wenn erste Erfahrungswerte für die „Initiative“ vorliegen, wollen wir gerne darauf zurückkommen. Doch nun zum Gutachten:
Rahmenbedingungen
Zunächst sind sich die Autoren der wirtschaftlichen Bedeutung der Nutztierhaltung vollkommen bewusst, wenn sie betonen, dass z. B. „in Niedersachsen die Ernährungswirtschaft innerhalb des verarbeitenden Gewerbes der zweitwichtigste Wirtschaftszweig nach dem Automobilbau (ist).“ Und: „Der Verband der Fleischwirtschaft gibt an, dass der Sektor Vieh und Fleisch der Ernährungswirtschaft insgesamt 406.000 Beschäftigte aufweist.“
Treffend schildern die Autoren auch die Bevölkerungsentwicklung (und das damit verbundene Konfliktpotential) auf dem Lande:
„Während die Landwirtschaft heute aus vielen Dörfern verschwindet, ist die Attraktivität als Wohnstandort zumindest in der Nähe von Ballungszentren weiterhin hoch. Vor allem neu hinzugezogene Bürger/-innen nehmen jedoch die großbetriebliche, technologisierte Landwirtschaft als Störfaktor ihrer Vorstellung vom Leben in ländlicher Idylle wahr.
Zuzug führt des Weiteren zu einer intensiven Gruppenbildung und infolgedessen zu einem Verlust der Beziehung zum Gesamtort. Landwirtschaftliche Inhalte werden zunehmend zum Expertenthema und spielen auch in den dörflichen Kommunikationsnetzwerken eine geringere Rolle. Die Vermittlung der ökonomischen Notwendigkeit eines Stallbaus fällt besonders schwer, wenn die Landwirtschaft als randständiger Sektor wahrgenommen wird.
Landwirte verfügen selten über eine kommunikative Ausbildung. Hinzu kommt, dass ihnen oftmals nicht klar ist, warum sie ihre betriebliche Investitionsentscheidung öffentlich verteidigen sollen. Gesellschaftliche Legitimationsanforderungen werden als Einmischung in privates Entscheidungshandeln aufgefasst. Dieses Verhalten kann jedoch zu einer Verschärfung der Konflikte beitragen, wenn sich die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig und ausreichend informiert fühlt.“
Auch die fast durchweg negative mediale Berichterstattung wird als mitbestimmender Faktor genannt:
„Rund 85 % der Internet-Berichte und Diskussionen über die Agrar- und Ernährungswirtschaft stehen der produktivitätsorientierten („modernen“) Landwirtschaft negativ gegenüber, in der Qualitätspresse sind es ca. 70 % der Meldungen und Kommentare.
Die Infragestellung einer produktivitätsorientierten Land- und Ernährungswirtschaft ist bei Fragen der Tierhaltung besonders ausgeprägt. Zudem sind es eher meinungsstarke Gruppen der Gesellschaft, von denen die Kritik ausgeht (einkommensstärker, höheres Bildungsniveau, höheres Interesse an landwirtschaftlichen Themen).
Weiter unten heißt es:
„Grundsätzlich kommt den Verbänden und Medien dabei im politischen Prozess eine wichtige Rolle zu, weil sie tatsächlich vorhandene Missstände aufdecken und auf die politische Agenda bringen. Allerdings hat die Fokussierung auf „Skandalmeldungen“ auch problematische Aspekte. Da das Bild der Öffentlichkeit von der Tierhaltung in erster Linie durch Medien geprägt ist, kommt es hier auch zu verzerrten Wahrnehmungen über die Realität der Tierhaltung.“
So habe sich „der Politikprozess im Tierschutz über einen langen Zeitraum in einem Spannungsfeld zwischen medialer Entrüstung und geringer fachlicher Bearbeitungstiefe bewegt.“
Und schließlich:
„Die in jüngerer Zeit erfolgte stärkere Kopplung des Tierschutzes mit dem breiter wählerwirksamen Thema gesundheitlicher Verbraucherschutz durch die „Antibiotikadebatte“ vergrößert grundsätzlich die Wählerwirksamkeit des Themas.“
Fragen von Kommunikation und Markt
Klassische PR hat nach Meinung der Gutachter hier ausgedient, einfache Aufklärung im Sinne von „Technik erklären, sachlich überzeugen“ sei nicht zielführend. Die Wirksamkeit neuer Wege direkter Kommunikation (Tag des offenen Hofes, Einsichten-Fenster, Webcams) sei zwar noch nicht wissenschaftlich untersucht, sie nutzten aber immerhin die Form des Dialogs (zu alternativen, deliberativen Formen der Bürgerbeteiligung, später mehr).
Einleuchtend sind die Erklärungen zur viel beklagten „Citizen-Consumer-Gap“:
„In der psychologischen Konsumforschung wird die Wahrnehmung von Verbrauchern und Verbraucherinnen, ob sie durch ihr eigenes Verhalten an einem Problem etwas ändern können, als Selbstwirksamkeitseinschätzung bezeichnet (…). Wenn Konsumenten/Konsumentinnen ihr eigenes Markthandeln als wenig wirksam bewerten, weil die Kausalkette zwischen ihrem Einkauf und der Landwirtschaft abstrakt ist, bleibt entgegen der eigenen Überzeugung das Kaufverhalten unverändert.“
Die Gutachter identifizieren jedoch eine nennenswert große Konsumenten-Gruppe, die bereit wäre mehr für tierische Produkte zu bezahlen. Es sei deshalb realistisch etwa 20 % der Verbraucher für Produkte mit 20-30 % höheren Preisen zu begeistern. Dafür sei u. a. nötig Fleisch nicht mehr als „bulk-product“ darzustellen.
„Zudem werden Labelprodukte häufig nur im SB-Regal geführt, obwohl die potenzielle Zielgruppe eher Bedienungsware bevorzugt.“
Gestützt wird die Annahme zahlungswilliger Konsumenten auch durch erfolgreiche Beispiele aus der Schweiz und den Niederlanden. Allerdings hat sich dort im einen Fall der Staat, im anderen eine große Handelskette sehr stark für Labelprodukte engagiert.
Schließlich sieht zwar der Beirat die Halbierung des Fleischkonsums als vernünftig und, zumindest für entwickelte Länder, alternativlos an. Ob am Ende aber auch eine Halbierung des Viehbestands herauskommt (durch verringerten Fleischkonsum, begrenzte Weideflächen) oder nicht (wegen steigenden Exporten in „Fleisch-Entwicklungsländer“) bleibt offen. Bis 2050 würde immerhin weltweit ein um 74 % höherer Fleischkonsum erwartet und Fleischexport wird von den Gutachtern nicht per se als Übel gesehen.
Struktur der Nutztierhaltung
Auch die heutige Struktur der Nutztierhaltung nehmen die Beiräte unter die Lupe.
„Grundsätzlich gilt für die meisten Tierproduktionszweige (v. a. Geflügel und Schweine) in zumindest abgeschwächter Form die Pareto-Regel. Das heißt, etwa 70 bis 80 % aller Tiere werden von den größten 20 bis 30 % der Betriebe gehalten.“
Mehr als einmal ist im Gutachten auch zu lesen, dass größere Betriebe keineswegs schlechter als Kleinbetriebe arbeiten:
„Eine eindeutige Aussage bzgl. des Zusammenhangs zwischen Herdengröße und Tierwohl lässt sich somit aus der bisherigen Forschung nicht ableiten. Es liegt die Vermutung nahe, dass andere Aspekte, wie bspw. das Betriebsmanagement oder die Ausbildung sowie Motivationen und Einstellungen der tierbetreuenden Personen stärkere Einflüsse auf das Tierwohl haben.“
Weiter unten heißt es:
„Allerdings sieht der WBA eine besondere Verantwortung gerade der großen Betriebe, da ihnen für das Image der Tierhaltung eine hohe Bedeutung zukommt. Mit der wachsenden Konzentration und dem verstärkten Auftreten von Großunternehmen in der Tierhaltung ist es naheliegend, dass diese besonders im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen (Ulrich, 1977). Eine gesellschaftlich verantwortliche Unternehmensführung (Corporate Social Responsibility) dürfte nicht nur im direkten Interesse dieser Betriebe selber liegen, sondern auch für die Reputation des Sektors insgesamt von hoher Bedeutung sein. Die Politik sollte Bemühungen um mehr Tierschutz und mehr Transparenz bei Großunternehmen in der Tierhaltung einfordern, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich hier einzelne betriebliche Entscheidungen auf eine Vielzahl von Tieren auswirken und weil die größeren, wachstumsstarken Unternehmen bessere Voraussetzungen für die Einführung von Innovationen haben.“
Und immer wieder – speziell auch im Katalog der empfohlenen Maßnahmen – wird der Mensch als entscheidender Faktor identifiziert, werden hohe Sachkunde und bestes Management eingefordert.
„Der Einfluss des Managements bzw. des Umgangs der betreuenden Personen mit den Tieren auf das Tierwohl ist sehr hoch. Sachkunde und darüber hinaus regelmäßige Fortbildungen bezüglich tierschutzrelevanter Aspekte bei Haltern, Beratern und Tierärzten sind wichtige Ansatzpunkte für eine nachhaltige Verbesserung des Tierschutzes.“
Forderungen an die Politik
Produkte, die unter höheren Tierwohl-Standards erzeugt wurden, finden heute aber ihre Käufer nicht, was auch an mangelnder Bereitschaft des Handels liege, solche Produkte flächendeckend anzubieten. Deshalb fordern die Gutachter den Eingriff des Staates, denn auch in der sozialen Marktwirtschaft gäbe es Situationen
„in denen die Steuerungsmechanismen des Marktes nicht zu den gesellschaftlich erwünschten Ergebnissen führen, obwohl kein Markversagen im klassischen Sinn vorliegt, so z. B. bei unerwünschten Verteilungswirkungen. Wie aus den oben diskutierten Problembereichen hervorgeht, ist dieser Fall in der Tierhaltung relevant: Zumindest ein Teil der Bevölkerung ist mit dem Ergebnis der Marktprozesse nicht einverstanden, weil gesellschaftliche Werte wie Tierwohl oder soziale Ziele trotz der hohen Wirtschaftlichkeit des Nutztiersektors nicht ausreichend erreicht werden. Inwieweit politische Maßnahmen in diesem Fall gerechtfertigt sind, ist mit Werturteilen verbunden und kann daher (…) nur von der Gesellschaft, das heißt politisch, entschieden werden.“
Insbesondere weisen die Autoren auf die „Kuppelproblematik“ hin:
„Ein geschlachtetes Tier wird möglichst vollständig verwertet. Neben den von den Verbrauchern im Einzelhandel nachgefragten sog. Edelteilen (wie Steaks, Hühnerbrust etc.) ist die erfolgreiche Vermarktung aller weiteren Teile und Nebenprodukte entscheidend für die Rentabilität eines Schlachtunternehmens. Ganz zentral sind hier industrielle Abnehmer z. B. für die Wurstproduktion oder Fertiggerichte (…). Allerdings ist es schwierig, in der Industrie, erst recht aber im Export von Nebenprodukten wie Häuten Mehrpreise für Tier- oder Umweltschutz zu erzielen. Wenn aber nur rund ein Viertel eines Tieres direkt vom Verbraucher als Fleisch nachgefragt wird und ggf. nur hier Mehrerlöse erzielt werden können, dann müssen die Mehrkosten allein auf diesen Absatzweg umgelegt werden, was den Preisabstand zum übrigen Markt vergrößert und ggf. zu Marktversagen führt.“
Zeitplan und Ziele
Dass eine grundlegende Branchen-Umstellung nur langfristig möglich ist und Planungssicherheit für alle Beteiligte gegeben sein muss, ist den Autoren bewusst.
„Stallbauten werden heute i. d. R. mit einer Abschreibungsfrist von 20 Jahren geplant. Grundlegende Änderungen von Haltungssystemen im gesamten Sektor sind daher nur mittel- bis langfristig möglich. Aufgrund der Planungsfristen ist es für die Landwirtschaft wichtig, frühzeitig klare politische Zielgrößen zu erhalten.
Solche Zielgrößen sollten von der Politik gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft möglichst zügig diskutiert, entschieden und verbindlich kommuniziert werden, damit Landwirte in ihren Stallbauentscheidungen der nächsten Jahre diese entweder bereits jetzt umsetzen können oder zumindest in Anlagen investieren, die sich entsprechend umgestalten lassen.
Ohne ein konsistentes Gesamtbild mit kommunizierbaren Richtungspfaden wird weder die Landwirtschaft noch die Bevölkerung überzeugt werden können. Die folgenden Leitlinien werden damit als richtungsgebendes Leitbild verstanden, die zum Teil bereits jetzt in konkrete Politik umgesetzt werden können, zu anderen Teilen Entwicklungsrichtungen aufzeigen, wobei Details und Politikinstrumente noch zu entwickeln sind.“
Alle sodann in den „Leitlinien für eine zukunftsfähige Tierhaltung aus Sicht des Tierschutzes“ genannten Veränderungen kreisen um: Außenklima, Ausleben natürlicher Bedürfnisse und Erleben positiver Emotionen der Tiere. Verzicht auf Amputationen zur Anpassung der Tiere an Haltungssysteme, Minimierung des Medikamenteneinsatzes und „hohen Bildungs-, Kenntnis- und Motivationsstand der im Tierbereich arbeitenden Personen“.
Die Forderungen nach ständiger Weiterbildung, dem regelmäßigen Nachweis der Sachkunde und die Verpflichtung fachliche Beratung in Anspruch zu nehmen, findet sich mehr als einmal im Text.
Kosten und Preise
Bei der Finanzierung orientieren sich die Gutachter an Beispielen aus anderen Ländern und legen für ihre Berechnungen die deutschen Größenordnungen zugrunde. Und damit geht es um richtig viel Geld! Die genannten 3-5 Mrd. Euro sind dabei vermutlich noch zu niedrig gegriffen sind, rechnet man allein die verstreut im Gutachten genannten weiteren Maßnahmen hinzu (personelle Aufstockung auf Seiten der Kontrolleure und Berater, Forschungsgelder, Tierwohl-Monitoring, Enquete-Kommission).
Hinzu kommen die Forderung nach „besserer finanzielle Ausstattung des Tierwohlfonds durch die Privatwirtschaft“ und eine „Selbstverpflichtung von Handel und Gastronomie zur Auslistung problematischer Produkte.“
Für die Zukunft nehmen die Gutachter erhebliche Preiserhöhungen schon für den neuen Mindeststandard an: Bei Schweine- und Rindfleisch + 28-42 %, bei Eiern + 9-24% und beim Hühnerfleisch + 9-22%.
„Weitergehende Präferenzen besonders tierschutzaffiner Zielgruppen sollten dann durch Programme zur Differenzierung (u. a. Label) abgedeckt werden.
Der WBA ist der Auffassung, dass für die Funktionsfähigkeit des Marktes im Ergebnis beides wichtig ist: Ein Mindeststandard, der breit gesellschaftlich akzeptiert wird, und Premiumsegmente, die die Innovationsdynamik des Sektors steigern.
Eine ausschließliche Fokussierung auf die Erhöhung der Minimalstandards ist nicht ausreichend und nicht sinnvoll. Unter anderem spricht dagegen, dass damit die Kosten vorwiegend der Landwirtschaft aufgebürdet werden würden. Zudem wird man damit den heterogenen Verbraucherpräferenzen nicht gerecht. Marktchancen durch eine Ausdifferenzierung des Marktes könnten nicht genutzt werden. Es bedarf weiterer Anreize zur Entwicklung von innovativen Marktsegmenten:
− Angesichts der beachtlichen Zahlungsbereitschaft eines Teils der deutschen Verbraucher/-innen sollte ein staatliches Tierschutzlabel mit hoher Glaubwürdigkeit die breite Anhebung von Standards ergänzen und als Innovationsinstrument dienen.“
Es soll „ein glaubwürdiges, hoheitliches Label eingeführt und intensiv beworben werden“ und heute bereits vorhandenen Labels in dieses Staats-Label überführt werden.
Gesellschaftlicher Diskurs
Ein ebenso wichtiger wie interessanter Bestandteil des Maßnahmen-Katalogs ist die Bürgerbeteiligung zur Förderung gesellschaftlicher Verständigungsprozesse:
„Dabei sollten insbesondere auch solche Verfahren gefördert werden, an denen sich Bürger beteiligen, die nicht Experten oder Vertreter von Interessenverbänden sind.
Im Mittelpunkt steht der Austausch von Argumenten mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung und idealerweise einer anschließenden konsensualen Entscheidungsfindung. In Diskussionen wägen die Beteiligten alternative Positionen ab unter der Prämisse, andere Standpunkte zu berücksichtigen.
Deliberative Verfahren können durch Treffen der Beteiligten (Präsenz), internet-gestützt oder durch eine Kombination beider Möglichkeiten realisiert werden. In Kanada haben beispielsweise über 400 Personen in zehn unabhängigen Web-Foren über die Frage der Freilandhaltung von Milchkühen diskutiert.
Verfahren, in denen größere Gruppen beteiligt sind bzw. die gleichzeitig mit vielen Gruppen landesweit durchgeführt werden, können auch zur Meinungsbildung der Bevölkerung insgesamt beitragen.
Bei Verfahren, in denen vor allem Laien beteiligt sind, geht es bei einer gezielten Auswahl typischerweise darum, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen (differenziert nach Geschlecht, Alter, Einkommensniveau etc.) einzubeziehen.
Später jedoch heißt es:
„Die Förderung solcher Prozesse sollte in einem Ausschreibungsverfahren erfolgen, in dem sich ein breites Spektrum von Organisationen um die Förderung der Durchführung deliberativer Verfahren bewerben kann. Dazu gehören zum Beispiel Gemeinden, Bürgerinitiativen und Orts- und Regionalgruppen von Verbänden und politischen Parteien, die damit den Dialog und die Meinungsbildung zur Zukunft der Nutztierhaltung innerhalb ihrer Mitgliedschaft fördern können.“
Die Organisation also doch wieder durch „die üblichen Verdächtigen“? Von Bürgerinitiativen organisierte Townhall-Meetings sind ja heute bereits Usus. Wenn Wochenendhausbesitzer auf Vollerwerbsbauern treffen, sind sie jedoch meist weit entfernt von jeglicher Art des Konsens-Strebens.
Ganz sicher trifft jedoch zu, dass „die Qualität der Deliberation wesentlich von der Qualifikation und Erfahrung der Moderation mitbestimmt“ wird. Weil bei solchen Verfahren „die Qualität des Dialogs im Vordergrund steht“, müsse man auch mit einer Dauer von „typischerweise mindestens zwei Tagen“ rechnen. „Oft erstrecken sie sich auch über längere Zeiträume bis hin zu einem Jahr.“
Zum Glück ist Deutschland personell recht gut aufgestellt. Das Gutachten selbst verweist auf „insgesamt 60 Universitätsinstitute oder Arbeitsbereiche an agrarwissenschaftlichen sowie veterinärmedizinischen Fakultäten (…), die sich mit der Tierproduktion befassen.“
Aber woher sollen die Massen an Moderatoren und Experten kommen, wenn bundesweit eine repräsentative Zahl von Bürgern diskutieren will? Internet-Chats mit 1.000 Teilnehmern sind wohl kaum vorstellbar.
Offene Fragen
Das Gutachten beschreibt die zahlreichen Probleme der Nutztierhaltung völlig zutreffend und bietet Lösungswege an. Allerdings stolpert man beim Lesen über einige Unklarheiten und findet Punkte, die einer nochmaligen Betrachtung würdig wären.
So wird ein hoheitliches Label gefordert, in dem alle vorhandenen Labels aufgehen sollen und dann empfiehlt der WBA „den Unternehmen der Fleischwirtschaft und des Lebensmittelhandels Verkaufsstrategien für Fleisch aus besonders tiergerechter Haltung aufzubauen (z. B. durch die Etablierung von Marken und Labeln), um Marktchancen zu nutzen.“
An einer Stelle werden Kosten erwähnt, die der Landwirt nicht ersetzt bekommen soll, ohne dass deren Ursache oder Höhe genauer benannt werden.
Besonders kritisch sind aber die Einlassungen zu den nicht-kurativen Eingriffen zu sehen und deren Ankündigung „mit einer realistischen Umsetzungsfrist von ca. 3 Jahren (Puten ca. 5 Jahre)“.
Im Licht der aktuellen Blaha-Studie zum Ringelschwanz und zweier weiterer Studien zum gleichen Thema, die beide aus Tierschutzgründen abgebrochen werden mussten, sollten diese Fristen nochmals überdacht werden. Auch nach dem Niedersächsischen Tierschutzplan soll ab 2018 auf Amputationen bei Schweinen, Hühnern, Puten verzichtet werden. Die an entsprechender Forschung beteiligte Wissenschaftler und auch verantwortliche Mitarbeiter des Landesministeriums bezeichnen den Zeitplan jedoch als „sehr ehrgeizig“.
Dieses Problems scheinen sich die Autoren bewusst zu sein:
„Bei der Produktion ohne Schwanz- und Schnabelkürzen existieren derzeit noch nicht ausreichende Praxiserfahrungen, und es verbleiben daher Restrisiken. Zu prüfen wäre daher die Unterstützung beim Aufbau eines im Wesentlichen privatwirtschaftlichen Risiko- und Beratungsfonds, um Tierhalter zumindest während einer Übergangszeit zu unterstützen. Darüber hinaus sind angesichts der Komplexität der Herausforderung koordinierte Begleitprogramme mit Schulungsangeboten und die Unterstützung beim Einsatz von Betriebsmanagementhilfen wichtig.“
An anderer Stelle, als es um die Stärkung der 2. Säule-Mittel auch für Tierwohlmaßnahmen geht, heißt es: „Beispiele für mögliche Maßnahmen sind Zahlungen für insbesondere tierbezogene Erfolgskriterien wie das Vorhandensein unversehrter Schwänze.“
Schon bei der Diskussion um eine „Ringelschwanzprämie“ aber, fragte Prof. Blaha zu Recht, ob denn 29 % abgebissene Schweineschwänze akzeptabel sein könnten?
Mit dem Kupieren soll es ein Ende haben, darüber herrscht weitestgehend Konsens. Feste Termine sind wegen der Planungssicherheit unverzichtbar, sollten aber mit Bedacht gewählt werden. Und da Bauern schon mal dazu neigen, terminierte gesetzliche Vorgaben erst in letzter Minute anzugehen, wäre in diesem Fall vielleicht ein Stufenmodell angebracht.
Schlussbemerkungen
Der Wissenschaftliche Beirat hat viel Mühe darauf verwandt der Komplexität des Themas gerecht zu werden und in weiten Teilen ist ihm dies wirklich gut gelungen. Im Gutachten selbst fehlen auch Hinweise auf Zielkonflikte nicht (Weidegang und Emissionen, Freilandhaltung und Parasitendruck, Tierschutz und Arbeitsschutz).
Nimmt man aber alle Forderungen nach größeren, tiergerechten Ställen, verbesserter Sachkunde, Fortbildungs-Verpflichtungen und erhöhten Management-Anforderungen zusammen, fällt es schwer sich deren Umsetzung im kleinbäuerlichen Betrieb vorzustellen. Der Verbraucherwunsch nach idyllischer Landwirtschaft wird unerfüllbar bleiben. Es läuft alles auf eine Zukunft der Großbetriebe hinaus.