Mit einigen einfachen Maßnahmen können Landwirte den Antibiotikaeinsatz drastisch reduzieren und das Tierwohl verbessern, ohne dass ihnen deswegen Wettbewerbsnachteile entstehen. Das zeigen Berner Forschende in einem für die Schweiz bisher einmaligen Praxistest ihrer eigens entwickelten “Freiluftkalb”-Methode.
Die Schweizer Kälbermast braucht große Mengen Antibiotika – auch wenn die Branche deren Einsatz in den vergangenen Jahren bereits reduzieren konnte. Viele Betriebe halten sich allerdings mit weitergehenden Maßnahmen zurück, weil oft unklar ist, wie sie sich auf ihre wirtschaftliche Effizienz auswirken werden. Forschende der Universität Bern haben nun ein Mastkonzept entwickelt, das mit weniger Antibiotika auskommt – und dieses auch umfassend in der Praxis getestet. Das Ergebnis des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms “Antimikrobielle Resistenz” (NFP 72) sowie von IP-SUISSE, Migros-Genossenschaftsbund und dem Bundesamt für Landwirtschaft geförderten Projekts ist deutlich: Im Vergleich zum etablierten Standard des Labels IP-SUISSE ließ sich der Antibiotikaeinsatz auf Versuchsbetrieben massiv reduzieren, das Tierwohl dabei verbessern, und die Wirtschaftlichkeit auf vergleichbarem Niveau halten.
Die ersten Wochen sind entscheidend
Für das sogenannte “Freiluftkalb”-Konzept hat ein Team um Studienleiterin Mireille Meylan von der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern zunächst analysiert, weshalb Mastkälber Krankheitsbilder entwickeln, die den Einsatz von Antibiotika nötig machen. Im Fokus standen dabei Lungenentzündungen. Diese sind in der Mast häufig und der Hauptgrund für Antibiotikabehandlungen. “Besonders in den ersten Lebenswochen sind viele Tiere hohen Infektionsrisiken ausgesetzt”, so Meylan. “Weil sie im Transport vom Geburtshof zum Mastbetrieb mit anderen Kälbern gemischt werden und bei der Ankunft in noch größere Gruppen kommen, verbreiten sich Krankheitserreger oft sehr schnell”.
Genau hier setzt das neue Konzept an: Mäster sollen neue Kälber nur von Höfen zukaufen, die in ihrer Nähe liegen, so dass während den kurzen Transporten keine Tiere aus verschiedenen Betrieben gemischt werden müssen. Die ersten Wochen nach der Ankunft halten sich die Tiere dann in Einzeliglus im Freien auf und werden gegen Lungenentzündungen geimpft. Erst nach dieser Quarantäne kommen sie in kleinen Gruppen von maximal zehn Kälbern zusammen. In diesen verbringen sie die restliche Zeit ihrer durchschnittlich viermonatigen Mastdauer. Dabei bleiben sie immer im Außenbereich, wo sie über ein Gruppeniglu und einen überdachten, reichlich eingestreuten Auslauf verfügen.
Gesündere Tiere
Ob das in der Realität tatsächlich zu gesünderen Tieren und weniger Antibiotikaeinsatz führt, wurde auf 19 Kälbermastbetrieben in den Kantonen Bern, Freiburg, Luzern, Aargau und Solothurn während je 12 Monaten getestet. Dabei besuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni Bern jeden Betrieb mindestens einmal pro Monat. Sie erhoben jeweils den Gesundheitszustand und das Wohlergehen der Kälber. Dasselbe taten sie auch auf 19 Vergleichsbetrieben in derselben Region, die nach den Vorgaben von IP-SUISSE produzierten, einem Label mit ebenfalls hohen Anforderungen an das Tierwohl. “So erhielten wir einen direkten Vergleich zwischen den Methoden”, sagt Tierarzt Jens Becker, der die meisten Gesundheitschecks durchführte. Es zeigte sich, dass bei den nach dem “Freiluftkalb”-Konzept gehaltenen Kälbern nicht nur weniger Atemwegs- und Verdauungskrankheiten auftraten, sondern auch frühzeitige Todesfälle seltener waren. “Das ist nicht zuletzt bemerkenswert, weil auch die Vergleichshöfe in Bezug auf die Gesundheit der Tiere durchaus vorbildlich abschnitten”, so Becker.
Fünfmal weniger Antibiotika
Mit Hilfe der Landwirte protokollierte Becker auch den Antibiotikaeinsatz akribisch, ist doch dessen Reduktion das Hauptziel des Konzepts. “Was wir sahen hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen”, sagt er. Während auf den Vergleichsbetrieben jedes zweite Kalb im Verlauf seines Lebens Antibiotika benötigte, war es bei den “Freiluftkälbern” nur jedes sechste. Und bei der gesamten Behandlungsdauer war der Unterschied noch größer: In Betrieben mit dem neuen Konzept wurden fünfmal weniger Behandlungstage als auf den Vergleichsbetrieben verzeichnet.
Wirtschaftlich kaum Unterschiede
Schließlich analysierten Mireille Meylan und ihr Team auch die wirtschaftlichen Aspekte des “Freiluftkalbs”. Denn diese sind für die praktische Umsetzung entscheidend. Sie berechneten hierzu den spezifischen Aufwand, den ein Mäster pro Kalb hat – vom Ankaufspreis über die benötigte Arbeit bis zum Futter. Dies taten sie in einer Variante auf Basis der realen Zahlen aus dem Versuch sowie in einer zweiten Variante mit Durchschnittszahlen für einzelne Kostenpunkte gemäß dem jährlich erscheinenden “Deckungsbeitragskatalog der landwirtschaftlichen Produktionszweige”. Trotz kleinerer Unterschiede ergaben beide Varianten, dass die Mast nach “Freiluftkalb” jener nach IP-SUISSE Label wirtschaftlich weitgehend ebenbürtig ist.
“Das überrascht nicht”, sagt Ueli Straub von AGRIDEA, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der kantonalen Fachstellen, der für diesen Teil an der Studie mitgearbeitet hat. “Neunzig Prozent der Direktkosten für ein Mastkalb machen Futter und der Ankaufpreis des Tieres aus”. Die restlichen Faktoren fielen deshalb nicht sehr stark ins Gewicht. Zudem neutralisierten sich die jeweiligen Vor- und Nachteile jedes Systems weitgehend: Der leicht höhere Arbeitsaufwand für “Freiluftkälber” wurde unter anderem durch die tiefere Sterblichkeit und eine gute Tagesmastleistung kompensiert.
Ein pragmatischer Weg in die Zukunft
Mireille Meylan zieht ein äußerst positives Fazit aus dem Projekt: “Wir haben gezeigt, dass man den Antibiotikaeinsatz mindestens auf bäuerlichen Kälbermastbetrieben drastisch reduzieren könnte. Und zwar auf sehr pragmatische Weise, die auch wirtschaftlich sinnvoll ist”. Allerdings sei man in den Wirtschaftlichkeitsberechnungen davon ausgegangen, dass Landwirte, die nach “Freiluftkalb” vorgehen, genau wie die IP-SUISSE-Betriebe RAUS-Direktzahlungen dafür erhalten, dass die Tiere nach einem festgelegten Standard genügend frische Luft erhalten. Doch das ist wegen des Daches über dem eingestreuten Auslauf im Moment noch nicht der Fall. Damit das Konzept wirklich breit umgesetzt werden kann, bräuchte es deshalb nun die Anerkennung durch Labels, Bundesämter und Großverteiler. Das sei erfahrungsgemäß ein langer Weg, so Meylan. Doch sollten kaum mehr Zweifel darüber bestehen, dass er gangbar ist – und sich im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen lohnen würde.
Quelle: Schweizerischer Nationalfonds SNF