11 Mai 2016

Die Stadt ist das bessere Land! Tut Tierwohl dem Tier wohl? Und was das miteinander zu tun hat

Jan Grossarth, FAZ-Redakteur für Landwirtschaft und Ländliches, beklagt in seinem neuesten Artikel, den Verlust ländlicher Idylle. Und findet sie dann doch und zwar in der Stadt. Auf allen Verkehrsinseln wachsen Radieschen und die Luft vibriert vom Flügelschlag der Vögel und Insekten. Auf dem Land hingegen nur Monotonie in Raps, Industrialisierung und Flächeneffizienz für billige Lebensmittel und schöne Exporte.

Der Städter freut sich zwar über Natur in der City, fordert diese aber auch auf dem Land zurück. Statt monotoner Äcker und Tierfabriken, sollen Kulturlandschaften aus bäuerlichen Zeiten wieder auferstehen.

Früher galt ein Schrebergarten als Gipfel der Spießigkeit, heute stellen Urban Farmers die Avantgarde. Sie spielen Bauer mitten in Berlin, aber für die Welternährung eher keine Rolle. Mit Landwirtschaft haben sie etwa so viel gemein, wie die Schäferspiele des 18. Jahrhunderts mit der Mühsal des Wanderschäfers damals wie heute.

Aber natürlich muss der moderne Bauer die Wünsche und Forderungen des Städters nicht nur ernst- sondern auch in seine Zukunftsplanung aufnehmen. Am Ende sind dies, trotz gefühlter Selbstversorgung, doch seinen Kunden.

Seit Erfindung der Postkutsche und noch viel mehr des Telegrafen, klagt der Mensch über stetige Beschleunigung seines Alltags. Beruf stresst, Chef nervt – da wundert es nicht, wenn viele sich Tagträumen vom beschaulichen Leben in der Urproduktion hingeben. Das ruhige (und verdammt ärmliche) Landleben allerdings ist schon eine ganze Weile Vergangenheit. Effizienz, Industrialisierung und Produktivitätssteigerung waren schon vor hundert Jahren Realität. Ein längerer Auszug aus dem Standardwerk der deutschen Geschichtsschreibung dazu in einer Fußnote (1).

Statt wie Jan Grossarth eintönige Äcker bis zum Horizont zu sehen, hatte der Autor dieser Zeilen gestern das Glück sich am satten Gelb in die Landschaft gegossener Rapsfelder zu erfreuen. Allein deswegen hätte sich die Fahrt nach Triesdorf schon fast gelohnt.

Dort nämlich stellte die Junge DLG die Frage, ob Tierwohl denn dem Tier wohl tut und forderte so zum Nachdenken über die Zukunft von Nutztierhaltung und Landwirtschaft auf. Dazu sollten drei Experten eine Diskussionsgrundlage liefern:

Prof. Dr. Albert Sundrum warb für mehr Produktqualität bei tierischen Erzeugnissen und höhere Lebensqualität für unsere Nutztiere. Für eine ausführliche Darstellung des Konzepts sei auf sein Interview verwiesen.

Dr. Heinz Schweer, Direktor Landwirtschaft bei Vion, berichtete über den Erfolg des Labels „Better leven“ in den Niederlanden, wo es gelungen ist nicht nur Frischfleisch im Rahmen des Programms zu vermarkten, sondern auch Wurstwaren. Damit können jetzt höhere Kosten durch gesteigerten Haltungsaufwand aufs ganze Schwein umgelegt werden und nicht nur auf die Edelteile.

Aber auch die Zukunft der deutschen „Initiative Tierwohl“ skizzierte Schweer. In zehn Jahren sieht er 8.000 Teilnehmer im Projekt und Zuschüsse von sieben bis acht Cent pro Kilo Schweinefleisch. Eine erstaunliche Botschaft, verkündete doch kürzlich ein Vertreter der Initiative, deren Vorbestand sei völlig offen und auch ein Ende nicht ganz auszuschließen.

Dr. Ludger Breloh, Bereichsleiter strategischer Einkauf der REWE Group, sprach über den „Handel als Steuermann der Tierhaltung“ und dessen Rolle nicht nur als Lieferant sondern auch als Vermittler zwischen Bauer und Verbraucher.

Beschäftigte der Konzern vor zehn Jahren noch eine Handvoll Mitarbeiter im Telefon-Center, sind es heute 20 und 80% der Fragen von REWE-Kunden drehten sich um die Tierhaltung. Weidehaltung für Milchkühe, Ringelschwänze am Schwein und scharfe Schnäbel fürs Geflügel wolle der Verbraucher, regional und nachhaltig sowieso.

Bei der aktuellen Preisentwicklung für Milch und Schweinefleisch sieht der Handelsstratege seine Branche dann zwar nicht allein am Ruder, dass in Zukunft aber nur noch Lieferanten tierischer Produkte überleben werden, die ohne „nicht-kurative Eingriffe“ auskommen, ist für ihn sicher. Der Ebermast gehört die Zukunft (und warum nicht auch der Immunokastration?). Versuche mit Langschnabel-Legehennen laufen erfolgreich (jeder einzelne Hühnerhalter müsse es nur schnellstens auch im eigenen Stall probieren).

Die „Initiative Tierwohl“ bleibt uns zukünftig erhalten, ein Tierwohl-Label soll es auch geben. Zur Finanzierung kann gern der Staat mit beitragen, die 2. Säule der Agrarförderung ebenso. Und vor allem: der vertikalen Integration gehört die Zukunft.

Schon zur Einleitung seines Vortrags skizzierte Breloh das derzeitige Sortiment von REWE. 25 % machen hier die Eigenmarken aus. Von „JA“ für Billig-Wurst bis „Wilhelm Brandenburg“, wenn’s etwas mehr sein darf. Nur beim Frischfleisch, da fehlt halt noch die Marke.

Hier wird das Zukunftsbild dann klarer: Verbraucher wünschen tierfreundliche Haltung, hübsche Ställe in malerischer Landschaft. Der Handel braucht Distinktionsmerkmale fürs Marketing, denn mit einem allgemeinen Label allein, hebt sich kein Laden vom Konkurrenten um die Ecke ab.

Völlig einig waren sich die drei Referenten denn auch, dass nicht alle Landwirte eine Zukunft haben. Hat die Milch 400.000 Zellen, fliegt der Lieferant aus dem Markt (Sundrum). Wer Schweine nur mit gekürzten Schwänzen durch die Mast bringt, hat am Schlachthof keine Chance (Schweer). In der Lieferkette für Zukunftsmarken, haben einfach nur Management-Talente Platz (Breloh).

Und diese Zukunft gefällt dann auch den Städtern: Die Wonneproppen Weidemilch kommt von naturbelassenen Wiesen und das Schnitzel Marke Ferkelfroh aus reetgedecktem Fachwerkstall. Weil beides durchaus etwas mehr kosten darf, lohnt sich die Produktion auch für ein paar Tausend Bauern (Marke Strohhut).

Allerdings haben wir ja heute auch die importierten Flüssig-Eier direkt aus bulgarischer Käfighaltung und die Convenience-Schiene beim Hühnerfleisch (Marktanteil Brasilien, Thailand = 100 %). Ob die in jener Zukunft dann immer noch als Marke „JA“ verkauft werden?

Das fragt sich Thomas Wengenroth

(1)
Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1914 Band 1, S. 193 ff.

Dann die Verwissenschaftlichung der Tierzüchtung, die seit den 9oer Jahren auf exakte Leistungsmessungen gegründet ist und über Spezialverbände sowohl zur Kontrolle wie zur Weiterzüchtung auch weit in die bäuerliche Praxis reicht. Dazu kommt die generelle Rationalisierung der Viehhaltung, zum Teil schon der Übergang zur ganzjährigen Stallhaltung — das bedeutet auch, dass die Menge der Viehzäune und Hecken aus dem Dorfbild schwindet-, zum Teil zur Arbeitsteilung zwischen Jung- und Masttierproduzenten. Am wichtigsten und am weitesten verbreitet ist die Rationalisierung der Fütterung. Das hieß praktisch auch, dass Futtermittel nicht mehr in erster Linie selbst produziert wurden, sondern am Markt, am internationalisierten Markt gekauft wurden – 1914 kam ein Drittel der Futtermittel, Mais und Gerste, Ölkuchen und Fischmehl zumal, aus dem Ausland, aus Russland und den USA. Das Deutsche Reich wurde bis 1914 zum größten Futtermittelimporteur der Welt. Auch im Inland entwickelte sich bei der Erzeugung von Futtermitteln mehr Arbeitsteilung zwischen den landwirtschaftlichen Produzenten, und ähnliches galt auch für andere Sektoren.

Ebenso revolutionierend wurde seit dem Ende der 6oer Jahre der Einsatz von jetzt überall verfügbarem Kunstdünger: Kali — hier hatte Deutschland seit der Entdeckung der Staßfurter Lager 1861 beinahe ein Weltmonopol-, Superphosphate und seit den 8oer Jahren das Thomasmehl, als Produkt der Neuerungen der Eisen- und Stahlindustrie; ferner Stickstoff, zuerst in Form von Guano und Chilesalpeter, und dann, seit den 9oer Jahren, ein Nebenprodukt der Verkokung, das schwefelsaure Ammoniak. Kurz vor dem Weltkrieg hat dann das Haber-Bosch-Verfahren die Stickstoffgewinnung aus der Luft ermöglicht und damit die Unabhängigkeit von Importen. Vor allem seit 1890 steigt der Kunstdüngerverbrauch (bis 1913) gewaltig an: Superphosphat von 0,5 auf 2 Millionen Tonnen, Thomasmehl von 0,4 auf 2,2 Millionen Tonnen, Chilesalpeter von 0,24 auf 0,56 Millionen Tonnen, Ammoniak von 0,06 auf 0,4 Millionen Tonnen, Kali von 0,21 auf 3,01 Millionen Tonnen. Der Anteil des Kunstdüngers an der Gesamtdüngung steigert sich zwischen den 70er Jahren und 1913 bei Phosphaten von 23 auf 55%, bei Kali von 3 auf 39 % und bei Stickstoff von 6 auf 15 %. 1910/13 kamen auf 1 ha landwirtschaftliche Fläche knapp 50 kg Kunstdünger p.a., in Frankreich waren es 20, in England 28 kg, nur in den Niederlanden lag die Zahl noch wesentlich höher. Die Preise sind zwischen 1870 und 1913 z. B. bei Kali und Superphosphaten um 40 % gesunken. Auch die Gründüngung durch Zwischenfruchtanbau wurde nun von der Wissenschaft entdeckt und erklärt. Die Entwässerung von Wiesen und dann auch die Berieselung von Anbauflächen machten mit der Entwicklung der Technologie gewaltige Fortschritte.

Schließlich ist ganz wichtig die Mechanisierung: vom Zeitalter der Traktoren und Elektromotoren her gesehen erst in den Anfängen, von der Tradition her aber doch revolutionierend. Die zunächst anscheinend fortgeschrittenste Maschine, der Dampfpflug, freilich hat sich nicht durchgesetzt, er setzte ebenes Land und große Flächen, etwa 400 ha, voraus. Dagegen war zunächst ein ganz einfacher Vorgang von Bedeutung, nämlich die Fabrikproduktion der traditionellen Geräte, von Sichel und Sense, Egge und Pflug; dadurch wurden sie alle wesentlich besser und effektiver.

Dann setzten sich die Dreschmaschinen durch, in geringerem Maße auch Drill- (für die Saat und die Verteilung von Kunstdünger) und Erntemaschinen: 1882 gab es 344000 Dreschmaschinen, 1907: 1,44 Millionen, eine Steigerung um knapp 320 %, die Zahl der Drillmaschinen wuchs von 64000 auf 290000 um rund 350%, die der Erntemaschinen von 20000 auf 301000 (+ 1400%); ein Drittel der Dreschmaschinen arbeitete 1907 mit Dampfantrieb. Natürlich waren die größeren Betriebe in Führung, alle über 20 ha hatten im Jahre 1907 Maschinen, aber auch schon 72,5 % der Mittelbetriebe zwischen 5 und 20 ha, ja nicht ganz vereinzelt selbst kleinere Betriebe. Deutschland lag in dieser Art Mechanisierung deutlich vorn, z.B. gegenüber Frankreich. Steigende Löhne und die Verbilligung der Maschinen (um 50 % in diesen Jahrzehnten) trieben die Mechanisierung voran. Die Milchzentrifuge revolutionierte dann die Milchverarbeitung und die Arbeit der Frauen.

Schließlich: Auch die landwirtschaftlichen Nebenindustrien wurden mechanisiert — die Ziegelei, die Zucker- und die Schnapsherstellung, vor allem das Mühlengewerbe; die Eisenbahn begünstigte die Holzindustrie und hielt die Glasindustrie in den Wäldern überhaupt am Leben, indem sie sie mit Kohle versorgte. Am wichtigsten war hier wohl die Mechanisierung der Milchverarbeitung durch die Molkereien, zumal seit der Einführung der Kältetechnik; das hat die Vermarktung tiefgreifend beeinflusst, von der eigentlichen landwirtschaftlichen Produktion abgespalten.

Seit der Jahrhundertwende endlich wurde auch das Land elektrifiziert, Elektrizität wurde die neue Antriebskraft für alle im Haus- und Hofkomplex arbeitenden Maschinen: Dreschmaschinen, Jauchepumpen, Milchzentrifugen und ersetzte so Arbeitskraft.

Gewiss, es gab auch Hindernisse der Rationalisierung. Die Bodenzersplitterung, die Streulage der landwirtschaftlichen Flächen eines Hofes und damit die langen Wege blieben erhalten; und traditionelle Bebauungsmethoden waren eingewurzelt: Die Fruchtwechselwirtschaft war noch im späten 19. Jahrhundert häufig nicht voll durchgeführt, eher dominierte eine verbesserte Dreifelderwirtschaft; die Spezialisierung der Betriebe war noch sehr begrenzt, gemischte Produktion überwog, wegen der Fruchtfolgen und aus arbeitsökonomischen Gründen. Die Technisierung der Landwirtschaft ist darum im ganzen geringer als in den USA, dem Land zusammenhängender Großflächen und stärkerer Marktorientierung. Dennoch, das Vordringen der rationalisierten Produktionsmethoden – jetzt auch bei den mittleren und kleinen Bauern – ist das eigentlich Charakteristische.

Das wird vor allem deutlich am Produktionszuwachs und an der gesteigerten Bodennutzung. Die Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch die Aufhebung der Brache und die Urbarmachung von Ödland gehen in den späten 7oer Jahren zu Ende, nur im Norden gibt es noch Moorkultivierung mit nennenswerten Auswirkungen. Seit 1878 geht die landwirtschaftliche Nutzfläche sogar geringfügig (4% bis 1913) von 36,6 Millionen Hektar (1878) auf 34,8 zurück, zugunsten von Wald, Bau- und Straßenland. Aber die Nutzung der Flächen verbessert sich; die „geringen Weiden“ und Heiden, die Gebiete der Schafhaltung z.B., werden – bis etwa 1893 – vor allem mit Hilfe moderner Düngung in bessere Nutzungsformen überführt. Insgesamt nehmen in unserem Zeitraum (1878/1913) Brache und Ackerweide von fast 4 auf 1,4 Millionen Hektar, also um zwei Drittel ab; der Flächenanteil des Getreides nimmt leicht (von 50,4 auf 56,4%), der der Hackfrüchte erheblich zu, um die Hälfte von 13,7 auf rund 20%. Das ist noch einmal eine enorme Intensivierung.

Erheblich, um drei Viertel, geht der Anteil der Handelsgewächse – Hanf und Raps – zurück, das hängt mit der Weltmarktkonkurrenz und dem Niedergang der Leinenindustrie zusammen. Neben solche Intensivierung der Bodennutzung treten generell die gewaltig wachsenden Hektarerträge; das war die Folge von Saatgutverbesserung, neuen Düngemitteln und effektiverer Bodenbearbeitung, kurz der industriellen Herstellung von Produktionsmitteln. Nach dem Ende der Nutzungsintensivierung um 1890 ist das die Ursache des Wachstums. Die Hektarerträge der vier Getreidesorten steigen zwischen der Zeit um 1880 und den Jahren vor dem Weltkrieg um etwa die Hälfte; die der Kartoffel von (1870) 85 auf knapp 160 Doppelzentner, knapp 87%; bei Zuckerrüben ist zwar der Zuwachs der Ernteerträge gering (von 237 auf 280 dz, also 18 %), aber das wird weit überkompensiert, weil der Zuckergehalt der Rüben um zwei Drittel steigt: 1875/76 braucht man 11,62 kg Rüben für 1 kg Zucker, 1912/13 nur noch 6,15 kg. Grünlanderträge wachsen (1885-1913) um 29,4%. Die deutschen Hektarerträge waren im Vergleich mit anderen Großstaaten weitaus die höchsten. Die Produkte des leichten Bodens wie Roggen, Hafer und Kartoffel hatten von den Neuerungen den größten Vorteil. Die pflanzliche Produktion insgesamt hat sich etwa verdoppelt; allein zwischen 1883/87 und 1908/12 ist sie um 65 % angewachsen.

In der Viehzucht ist das Wachstum noch stärker: Zwischen 1873 und 1913 wächst die Zahl der Pferde (das wichtigste „Nahverkehrsmittel“) von 3,55 auf 4,56 Millionen, die der Rinder von 15,78 auf 20,99 Millionen, und am stärksten ist die Steigerung der Schweinezahl von 7,12 auf 25,66 Millionen; nur die Zahl der Schafe nimmt von 25 auf 5,52 Millionen ab. Die Schlachtgewichte der Rinder nehmen zwischen 1870 und 1904 um ca. 25 % (auf 250kg) zu, die der Schweine um 13,5 % (auf 85 kg), und diese Tendenz setzt sich bis 1913 weiter fort.

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